Genosse Stalin, wie wir Ihnen glaubten, so haben wir nicht mal uns selbst geglaubt.

Marcel Pauker (1896 - 1938) - ein Verfemter

Marcel Pauker

Sein Name war jahrzehntelang offiziell verpönt. Der hohe kommunistische Parteifunktionär und Aktivist der Komintern, Marcel Pauker (1896-1938) galt nicht nur in den Augen der rumänischen Kommunisten als das verabscheuungswürdige Beispiel eines Abweichlers, sondern auch in den Augen der von Moskau aus gesteuerten Kommunistischen Weltbewegung.

Als Sohn eines jüdischstämmigen demokratischen Journalisten war Marcel Pauker bereits in seiner Kindheit und Jugend mit den sozialutopischen und sozialdemokratischen Ideen des beginnenden 20. Jahrhunderts in Berührung gekommen. Seine Kontakte zu sozialrevolutionären Zirkeln brachten ihn schon früh in die Nähe der kommunistischen Bewegung. Während seines Studiums in der Schweiz unterhielt er enge Verbindungen zu kommunistischen Organisationen, kam in Berührung mit der klassischen marxistischen Literatur, insbesondere mit den Schriften Lenins. Nach der Gründung der kommunistisch-sozialistischen Partei Rumäniens 1921 gehörte er den Leitungsorganen dieser Organisation an. 1922 wurde Marcel Pauker (konspirativer Parteiname: Luximin) Mitglied des Zentralkomitees und des Politbüros dieser Partei. Marcel Pauker spielte auch innerhalb der Kommunistischen Balkanföderation ( mit Sitz in Sofia) eine herausragende Rolle. Innerhalb der KPR befürwortete er die Linie der 1919 gegründeten Komintern. Ein rumänisches Militärtribunal verurteilte ihn 1925 in Abwesenheit zu zehn Jahren Gefängnis und danach zu lebenslänglicher Zwangsarbeit. Marcel Pauker hatte sich diesem Urteil durch Flucht aus der Haft entzogen. Er tauchte im Ausland unter und kehrte 1929 nach Bukarest zurück. Kurz darauf wurde er erneut verhaftet und im Juni desselben Jahres begnadigt. 1935 wurde er Sekretär des ZK der KPR. 1937 begab er sich in die UdSSR. Von der Komintern wurde er als 'Abweichler' verdächtigt, einerseits wegen seiner ´bürgerlichen' Abstammung, andererseits wegen seiner langjährigen Westaufenthalte. Bereits 1929 wurde er von dogmatischen Vertretern der KPR und der Komintern des sogenannten 'prinzipienlosen Fraktionskampfes' bezichtigt. Die internationale Kontrollkommission der Komintern begann kurz nach seiner Ankunft in der UdSSR die früheren Aktivitäten von Pauker-Luximin kritisch zu untersuchen.

In Moskau hatte zu jenem Zeitpunkt die große Säuberungswelle bereits eingesetzt. Nicht nur hochrangige sowjetische Staats- und Parteifunktionäre (z.B. Bucharin, Rykow, Rakowskij) gehörten zu den Opfern der stalinistischen Säuberungswelle, sondern auch unzählige ausländische KP-Aktivisten. Darunter befanden sich auch neunzehn hochrangige Funktionäre der Kommunistischen Partei Rumäniens (Ecatarina Arbore, Imre Aladar, Ioan Dic-Dicescu, Teodor Diamandescu, Alexandru Dobrogeanu-Gherea, Elena Filipovici, David Fabian, Dumitru Grofu, Jaques Konitz, Elek Köblös, Leon Lichtblau, Marcel Leonin, Gelbert Moscovici, Alexandru Nicolau, Eugen Rosvan, Alter Zalic, Petre Zissu, Timotei Marin und Marcel Pauker).

In kürzester Zeit schrieb Marcel Pauker mehrere ausführliche Selbstbiografien und Erklärungen über seine bisherige Tätigkeit als kommunistischer Funktionär. Trotz vieler selbstkritischer Anmerkungen, die unter dem Druck der Kontrollkommission entstanden, sind diese Dokumente äußerst aufschlußreich für die Entwicklung der kommunistischen Bewegung in Rumänien und auf dem Balkan. Es sind Zeugnisse, die fast von einem missionarischen Eifer ihres Verfassers sprechen. Gleichzeitig sind es aber auch Dokumente, die in einer Grenzsituation entstanden sind.

In dieser Situation wußte Marcel Pauker wahrscheinlich um die Gefahr, selbst ein potentielles Opfer des tödlichen stalinistischen Säuberungsmechanismus werden zu können. Seine weiter unten in deutscher Sprache erstmals veröffentlichte Autobiographie, die er noch in 'relativer Freiheit' geschrieben hatte, könnte man zweifelsohne als sein politisches Testament bezeichnen. Sein Glaube an die Partei war jedoch auch in dieser Lage unerschütterlich. Nachdem der NKWD 1938 die Ermittlungen gegen ihn aufgenommen hatte, war sein Schicksal besiegelt. Er durchlief bis zu seiner Hinrichtung am 16. August 1938 das Drama hunderttausender Kommunisten, die vor dem Exekutionskommando oder im Gulag endeten. In einem eindringlichen Lied beschreibt Bulat Okudshawa das Schwanken dieser Opfer zwischen unerschütterlichem Glauben und dem Zweifel an der Rechtmäßigkeit ihrer Verurteilung:

Worte eines politischen Gefangenen an Stalin

Genosse Stalin, Sie sind unser großer Vater,
auch in der Wissenschaft haben Sie geglänzt.
Und ich bin nur ein sowjetischer Häftling,
und mein Genosse ist der Wolf von Brjansk.

Warum ich sitze, hab ich nie erfahren,
jedoch die Staatsanwälte irren nie.
Sitze im Straflager, wo einstmals unterm Zaren,
in der Verbannung saßen sie.

Wir gaben alles zu, was sie behaupten,
die fremden Sünden auch und überhaupt.
Genosse Stalin, wie wir Ihnen glaubten,
so haben wir nicht mal uns selbst geglaubt.

So sitze ich hier in der Truchandsker Gegend,
wo jeder Posten mich behandelt wie ein Hund.
Doch ich versteh, das alles, alles ist deswegen,
weil sich der Klassenkampf verschärft bei uns.

In unseren Träumen sehn wir Sie, Genosse Stalin,
mit dem Parteimützchen auf der Parade stehn im Licht.
Wir, die wie Bäume abends auf die Pritschen fallen,
verstehn der Führer Schlaflosigkeit nicht.

Begruben gestern wieder zwei Marxisten,
in rote Fahnen hüllten wir sie ein.
Der eine, sagt man, war nach rechts hin abgewichen,
der andere, stellt sich raus, soll schuldlos sein.

Bevor sich seine Augen für immer schlossen,
vermachte er euch letzte Worte noch.
Bat seinen Fall zu prüfen die Genossen
und rief ganz leise: Stalin lebe hoch!

Genosse Stalin, tausend Jahre solln Sie leben,
komm ich auch in der Taiga elend um.
Ich glaube, Brot und Eisen wird es geben,
genug pro Kopf unsrer Bevölkerung.

Nach dem XX. Parteitag der KPdSU, auf dem Chruschtschow den Personenkult unter Stalin anprangerte, setzte eine Welle von Rehabilitierungen ehemaliger Opfer ein. 1957 wurde auch Marcel Pauker als "unschuldiges Opfer" von den sowjetischen Behörden rehabilitiert. Die Antwort auf eine von seinen in Rumänien lebenden Kindern Vlad und Tatjana an den Obersten Sowjet gerichtete Anfrage wurde durch das rumänische Rote Kreuz (!) erst 1959 gegeben. In dem lakonischen Brief wurde den Kindern lediglich das Todesdatum mitgeteilt. Die Rehabilitierungsbegründung der sowjetischen Behörden aus dem Jahre 1957 wurde ihnen ebenso verschwiegen wie die Urteilsbegründung.

Die Frau von Marcel Pauker, Ana Pauker, die 1952 in Ungnade gefallen war, hatte nie die heimliche Hoffnung aufgegeben, daß ihr Mann noch am Leben sei. Als hochrangige Parteifunktionärin und Außenministerin wurde sie zusammen mit der 'parteifeindlichen Gruppe' Vasile Luca und Teohari Georgescu aus der rumänischen Arbeiterpartei (RAP) ausgeschlossen, am 19. Februar 1953 verhaftet, am 20. April 1953 aus der Haft entlassen und unter Hausarrest gestellt. Ein gegen sie wegen 'abweichlerischer Tätigkeiten' und 'zionistischen Verbindungen' geplanter Prozeß wurde (wahrscheinlich wegen Stalins Tod) ausgesetzt. (Ihr Bruder Solomon Rabinsohn befand sich wegen 'zionistischer Aktivitäten' in Haft.) Im Zusammenhang mit der Haltung Ana Paukers zu ihrem hingerichteten Mann zirkulierten unzählige Legenden, die sowohl von ihren politischen Gegnern als auch von mehreren Publizisten und Historikern (u.a. Robert Conquest, Victor Frunza, Jaques de Launay, Arkadij Vaxberg) in Umlauf gesetzt wurden. Darin heißt es, sie habe ihren Mann an den NKWD verraten.

Es wurde ihr sogar unterstellt, ihren Mann eigenhändig erschossen zu haben (Astra, I. Jahrgang Nr. 7/14. 3. 1990). Dabei befand sich Ana Pauker zum Zeitpunkt der Hinrichtung ihres Mannes in einem rumänischen Gefängnis und reiste erst nach ihrer Entlassung in die UdSSR.

Anläßlich des 30. Geburtstages der rumänischen kommunistischen Partei (1951) bezeichnete Parteichef Gheorghiu-Dej Marcel Pauker als Trotzkisten, Feind der Arbeiterklasse und als kleinbürgerlichen Abenteurer - ohne ihn jedoch namentlich zu nennen. Zehn Jahre später, anläßlich des 40. Jubiläums der KP-Gründung, erwähnte Gheorghiu-Dej erneut die parteifeindlichen Aktionen von Marcel Pauker: "Im Jahre 1929, gerade als Rumänien von der Wirtschaftskrise erfaßt wurde, ging die Partei durch eine schwere Prüfung. Provokatorische Abenteuerelemente, die sich in ihre Leitung eingeschlichen hatten und in zwei Fraktionen gruppiert hatten - Pauker-Luximin und Barbu -, spalteten die Partei, die Gewerkschaften und den Kommunistischen Jugendverband und lösten innerhalb der Partei einen prinzipienlosen Fraktionskampf aus, der zwei Jahre dauerte. Sie untergruben die Kräfte und das Ansehen der Partei, schufen eine Atmosphäre der Verwirrung und Demoralisierung der Parteimitglieder, gaben zahlreiche Parteiaktivisten preis, die den Unterdrückungsorganen des bürgerlich-gutsherrlichen Staates in die Hände fielen. Die Siguranta-Organe standen dieser Provokation nicht fern.

Die Fraktionskämpfe lähmten die Partei und brachten sie an den Rand der Auflösung, sie hinderten sie, die Rolle des politischen und organisatorischen Führers des Kampfes gegen die Versuche der Ausbeuterklassen, auf Kosten der Werktätigen aus der Krise herauszukommen, zu erfüllen."(Gheorghe Gheorghiu-Dej, 40 Jahre Kampf unter dem allbesiegenden Banner des Marxismus-Leninismus. Bericht auf der Festversammlung anläßlich des 40. Jahrestags der Gründung der Kommunistischen Partei Rumäniens, 8. Mai 1961, in: ders. Artikel und Reden. 1959-1961, Bukarest 1961, S.523-524.)

Nachdem Ceausescu 1965 an die Macht kam, setzte eine als Entstalinisierung getarnte Abrechnung mit seinem Vorgänger ein, die darauf hinauslief, mehrere politische Gegner von Gheorghe Gheorghiu-Dej, die im Zuge der Repressionen verurteilt worden oder in Ungnade gefallen waren, zu rehabilitieren.

Unter den Rehabilitierten befanden sich prominente Opfer des rumänischen Stalinismus, wie KP-Chef Stefan Foris oder Justizminister Patrascanu, Vasile Luca oder Teohari Georgescu. Ana Pauker blieb unerwähnt. Obwohl auch Marcel Pauker als eines der neunzehn in der Sowjetunion unschuldig hingerichteten Opfer des Stalinismus rehabilitiert wurde, hatte sich die offizielle Parteihistoriografie nie ausführlicher mit dessen Biografie und Tätigkeit beschäftigt. Selbst in einer 1968 von der Zeitschrift 'Analele Institutului de Studii Istorice si Social-Politice' (Nr. 2-3) veröffentlichten biographischen Notiz fehlt nicht der diskriminierende Hinweis auf die 1929 innerhalb der KPR stattgefundenen Fraktionskämpfe und den damit verbundenen 'politischen Fehlern', für die Marcel Pauker verantwortlich gemacht wurde. Die meisten rehabilitierten Opfer des Stalinismus wurden während der Ceausescu-Zeit in monografischen Abhandlungen und verschiedenen Aufsätzen, die in der gleichgeschalteten Parteipresse veröffentlicht wurden, gewürdigt. Der Name Marcel Pauker war wohl nicht mehr tabuisiert, wie der seiner Ehefrau Ana Pauker, wurde aber trotzdem äußerst selten erwähnt.

William Totok


Marcel Pauker (Biographische Daten) *)

(Auszug)

1896 geboren und 1914 maturiert - meine Kindheit fällt vollständig in die Vorkriegszeit. Geboren bin ich, wie meine Geschwister, in Bukarest. Meine Eltern stammen aber beide aus der Moldau. Beide sind miteinander verwandt, so daß mein Urgroßvater Margulius von beiden Seiten als Stammvater gilt und gewissermaßen als traditionsgebend in der Familie angesehen wurde. Er war 1848 irgendwie in die revolutionären Bewegungen Siebenbürgens (Transsilvaniens) verwickelt, von dem Grenzdistrikt Suceava her, wo er wohnte und einige Zeit von den intervenierenden russischen Truppen verhaftet. Er war Atheist und wahrscheinlich ist auf ihn zurückzuführen, daß in der Familie ein bürgerlich-revolutionärer Zug ging, daß ihre meisten Zweige längst mit der Religion gebrochen haben, nicht kirchlich getraut, nicht getauft und nicht kirchlich begraben wurden, viele Mischehen [existierten], etc., und daß - politisch [gesehen]-, [die] republikanisch-demokratische und sozialistische Einstellung dominierte.
Meine Mutter wurde durch jenen Urgroßvater erzogen, da ihre Mutter früh geschieden war.
Mein Vater, der mütterlicherseits dieselbe Abstammung hatte, war Sohn eines früh an Tuberkulose gestorbenen kleinen [Beamten] des damals existierenden Stadtzolles und dann der neu-eingeführten Eisenbahnen. Von dieser Seite war die Einstellung ebenfalls freiheitlich und antireligiös; den Bruder des Großvaters Pauker habe ich gekannt und seine Nachkommenschaft ist auch heute im selben Fahrwasser.
Schon seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts ist die Familie (beide Zweige) ganz rumänisiert und die letzten drei Generationen sprechen und verstehen nicht mehr das jüdische Idiom. Ich habe meinem Vater vorgeworfen, daß er sich seines jüdischen Ursprungs schämt, was nur als Einfluß des herrschenden Antisemitismus zu bewerten sei. Denn uns Kindern wurde überhaupt verschwiegen, daß wir mit dem Judentum überhaupt etwas Gemeinsames haben und wir erfuhren das erst in späteren Jahren. Doch Vater behauptete, es sei bloß Erziehungsmethode gewesen, um uns innere Kämpfe zu ersparen.
Wie dem auch sei, wir wurden also erzogen ohne jede Religion und in der Liebe zum rumänischen Volk, als dessen Söhne und Töchter.
Nach kurzer Existenz als Angestellter der Eisenbahn kam mein Vater in die Zeitung seines früheren Geschichtslehrers G. Panu, ein begabter Journalist, der eine "Radikale Partei" gegründet hatte, nach französischem Muster und mit ähnlichem Programm. In jener republikanischen Atmosphäre machte Vater die Schule der Journalistik, wobei er bekannt wurde mit der damaligen sozialdemokratischen und bürgerlichen-republikanisch-demokratischen Bewegung überhaupt.
Panu wurde wegen eines heftigen, gegen den König gerichteten Artikels wegen Majestätsbeleidigung verurteilt und floh aus dem Lande. Bei seiner Rückkehr verließ er den Radikalismus und trat über zur herrschenden sog. "National-Liberalen Partei". Ungefähr zur selben Zeit war die gesamte Sozialdemokratische Partei denselben Weg gegangen. Der allgemeine Vorwand war, die Liberale Partei zu demokratisieren und zu einem Hebel der Modernisierung der Landes, also der Überwindung des Feudalismus in Rumänien zu machen.
Es ist meinem Vater anzurechnen, daß er diesen allgemeinen Taumel nicht mitmachte, auf die lockenden Perspektiven in puncto Karriere verzichtete und nach einigem Herumlungern als Druckereileiter sich eine Stelle fand in einer demokratischen Arbeiter- und bauernfreundlichen Zeitung, dem damaligen "Adevarul". Dies war in der Zeit, in der ich sechs Jahre alt war und anfing zu lesen, [zu] schreiben und die Augen aufzumachen.
Die Atmosphäre, in der ich dermaßen aufwuchs, war ziemlich politisch, umsomehr, als eine Reihe von Kriegen, (davon zwei auf dem Balkan) die Spannung vergrößerte. Der Inhalt der Einstellung zu hause war: Rumänien ist ein oligarchischer Staat; das Volk, besonders die Bauern, unterjocht; schwärzester Analphabetismus; Elend; Krankheiten. Die Oligarchie ekelerregend, byzantinisch, faul, käuflich, unmoralisch. Die politischen Parteien verraten das Volk, laufen über zu den Volksfeinden und [den] Hohenzollern. Ehrliche Leute, die das Volk wirklich lieben, können in Rumänien kaum Politik machen, da überall der Schmutz haushoch ist. Reich kann man werden nur durch Unehrlichkeit und im Schatten einer Regierungspartei. Dies ist eines Demokraten unwürdig und unpatriotisch. Patriotismus ist Ehrlichkeit und Liebe zum Volk. Der Fremdenhaß und der Nationalismus der Oligarchie ist das entgegengesetzte des Patriotismus, etc.
Ideal: die große französische Revolution und der Kampf des französischen Volkes gegen Bonapartismus, Regalismus, Boulangismus und Anti-Dreyfussismus. Demokratische Republik. Verherrlichung der französischen Zustände als Modell für das zukünftige Rumänien.
So hatte mein Vater uns Kindern eigentlich das Ideal der bürgerlichen Demokratie gegenüber des bestehenden Halbfeudalismus ständig vorgehalten. Wir wußten uns früh zu freuen über die wachsenden Erfolge der Sozialdemokratie im Reichstag, der Radikalen in der franz. Kammer, etc. Wir hörten von der russischen Revolution gegen Zarismus und Selbstherrschaft und daß von dort die Demokratie nach Rumänien kommen würde, da das rumänische Regime eine Folge des russischen sei. Als die "Potemkin" in Konstanza endete und Gefahr bestand, daß der Führer des Schiffes, der Matrose Matjustschenko den Russen ausgeliefert würde, wurde er bei uns im Hause versteckt mit noch einem, etwas deutsch verstehenden Matrosen, und wir Kinder waren stolz, daß uns Matjustschenko auf den Knie(e)n gehalten und russische Lieder gesungen hatte. Später weinten wir als wir hörten, daß er - nach Rußland illegal zurückkehrend - hingerichtet wurde.
1907 kam der Bauernaufstand und die mörderische Unterdrückung und da entwickelte sich der inbrünstige Haß gegen Gendarmen und Polizei, König und Regierung. Es war auch so, daß ich jedes Jahr 4-5 Monate auf dem Lande verbrachte, alle Feldarbeiten mitmachte, sogar die schwersten (Mähen, Dreschen) gut erlernte und das Leben und Leiden auf dem Dorfe mit jugendlicher Intensität miterlebte. Ich eignete mir die Sprache der Bauern an, die mir bis heute immer in allen Lebenslagen, die leichte Fühlung mit den Bauern ermöglichte. Da lernte ich nun die Bojaren-Wirtschaft nicht nur vom Standpunkte ihrer oberen, byzantinisch-schmutzigen Politik, sondern auch von unten, der kanibalischen Bauern-Aussaugung kennen und das Blut stieg mir zu Kopfe vor Haß gegen die Blutegel und es wurde mir warm vor Liebe zu unserem gutmütigen, leidenden, rumänischen Volke.
In der Periode der steigenden Reaktion nach 1908 wurde oft die Zeitung, wo mein Vater arbeitete, von houliganisch-nationalistischen Banden angegriffen und die Arbeiter bildeten Garden und kamen um die Zeitung zu verteidigen. Wir zitterten zu Hause um den Vater und erhielten telefonisch Beruhigung: die Arbeiter verteidigen uns. Auf diese indirekt-direkte Art [lernte] ich zuerst die Arbeiterschaft als politische Macht [kennen].
Über Sozialismus hörte ich viel. Er war mir aber ungefähr ein: "Krieg den Palästen, Friede den Hütten!" Figuren wie Lafargue, Jaurès, Bebel [wurden] bei uns verherrlicht - (Millerand) als Verräter verabscheut, aber auch Viviani, Briand als unwürdige Überläufer "rumänischer" Art. Mein Vater schwärmte etwas für Kooperativbewegung besonders auf dem Lande, für gemeinschaftliche Bodenbearbeitung als Lösung der Frage der Agrarproduktion. Das war alles. Die Arbeiter schätzte er als Vorkämpfer für [die] Republik, [für] allg[emeines] Wahlrecht, Demokratie und Kampf gegen Analphabetentum.
Alles in allem war also die Stimmung zu Hause eine bürgerlich-revolutionäre. Selbstverständlich unterstützte aber mein Vater den Einfluß der Schule in Richtung Einigung des rumänischen Volkes mit den Teilen die unter Fremdherrschaft waren. Bezeichnenderweise galt der nationale Feiertag (der 10. Mai) in unserem Hause nicht als Feiertag, sondern als Trauertag (das Motto des "Adevarul", wo Vater arbeitete war lange Zeit gewesen: "10. Mai -Trauertag") da es ein monarchistischer Tag war. Wohl aber anerkannten wir den 24. Januar ([Ver]Einigung der Moldau und der Walachei!)als Feiertag im Hause und feierten ihn.
Die Judenfrage war so zu lösen wie in Frankreich: Gleichheit, allgemeines Wahlrecht, Trennung von Kirche und Staat, Abschaffung der politischen Privilegien, allgemeiner Schulunterricht. Dann käme von selbst allgemeine Vermischung der beiden Völker!!
Ich gebe hier die Stimmung des Hauses wieder, weil ich vollkommen davon erfaßt war und meine politische Erziehung in den Jahren der Kindheit darin bestand. Der Einfluß der väterlichen Erziehung war um so kräftiger, als mein Vater, unterstützt von Mutter, eine ziemlich feste Konsequenz darin zeigte.
Er hatte das allgemeine Überlaufen der rumänischen Demokratie ins Regierungslager nicht mitgemacht und [somit] den Weg eines schweren, armen Lebens vorgezogen. Er hat sich auch fernerhin weit weggehalten vom Schmutz, der von der rumänischen herrschenden Klasse auf die Kleinbourgeoisie herunterrann. Nie hat er im Ministervorzimmer gewartet, nie durch hohe Protektion sich einen materiellen Verdienst verschafft, nie sich in schmutzigen Zeitungsaffairen eingelassen. Dies war und ist der Stolz seines Lebens. Als er noch im politischen Leben stand, wurde gegen ihn ein Attentat organisiert, wodurch er ein Auge für immer verloren hat, aber in der Zeitung konnte man ihn nicht angreifen, weil er keine "schwache Stelle" hatte. Ebenfalls später, als houliganisch-nationalistische (später faschistische) Schmutzeimer gegen demokratische, besonders jüdische Personen nur so geschüttet wurden, konnte ihn kein Schmutz treffen und zweimal hat er es gewagt, an reaktionäre Blätter, die wütende Kampagnen gegen mich und dann gegen meine Frau richteten, Berichtigungen zu schicken und zu unterschreiben. Er sagte: ich fürchte die Bande nicht, denn meine Visitenkarte ist rein von balkanischem Schmutz. Und dies ist wahr. Uns hat er erzogen in Achtung vor Ehre und Ehrlichkeit, Mut und Einstehen für die eigene, aufrichtige Meinung, Aufrichtigkeit überhaupt; Verachtung für Karrierismus, Gold- und Mitgiftjägerei, Geschäftemacherei, Haß gegen die Verderbtheit und Verfaultheit der oberen Zehntausend, Haß gegen den unglaublich schmutzigen rumänischen Byzantinismus. Stolz war er weniger darüber, daß seine Kinder Vorzugsschüler waren, als vielmehr darauf, daß sie nicht lügen, Achtung vor wertvollen Menschen haben etc. und nicht zuletzt Achtung vor Frauen.
 

*) Das in deutscher Sprache (in Moskau, im November 1937) verfaßte Original dieses Dokuments befindet sich im Archiv des Sicherheitsministeriums der Russischen Föderation - Stadt- und Regionaldirektion Moskau (Ministerstwo Besopasnosti Rossioskoi Federazi - Uprawlenje po Gorodu Moskwe i Moskowskoi Oblasti); Fonds M. Pauker - S. Marin: AMSM. Siehe: Fonds 495, Inhalt 255, Dossier 200 (Dokumente betreffend Marcel Pauker). Das Manuskript umfaßt 282 handgeschriebene Seiten. Die Abschrift des Manuskripts sowie die Transkription kyrillisch geschriebener Wörter nahm Eva Förster vor. Der mit mehreren Bildern illustrierte Text wird in der vorliegenden deutschen Erstveröffentlichung vollständig und fast originalgetreu wiedergegeben (Teil 1, 2, 3 und 4 in der Halbjahresschrift Nr.2/96, Nr. 1/97, Nr.2/97 und Nr.1/98).
Ein Lebenslauf

William Totok und Erhard Roy Wiehn haben nun unter dem Titel "Marcel Pauker Ein Lebenslauf. Jüdisches Schicksal in Rumänien. 1896-1938. Mit einer Dokumentation zu Ana Pauker" die Aufzeichnungen herausgegeben. Das Buch ist im Hartung-Gorre Verlag Konstanz 1999 erschienen (ISBN 3-89649-371-X) und kostet 34 DM. Das Buch kann durch den Buchhandel bezogen werden oder aber auch direkt bei der Verlagsbuchhandlung Hartung-Gorre, Säntisblick 26, D-78465 Konstanz, Tel. +49(0)7533-97227 Fax: +49(0)7533-97228 bestellt werden. Der besseren Lesbarkeit wegen wurden stellenweise einige Abkürzungen aufgelöst (z.B. S.D. - Sozialdemokratie, K.I.- Kommunistische Internationale, d.i. die Komintern, WEB - Westeuropäisches Büro, WES - Westeuropäisches Sekretariat, EKKI - Exekutivkomitee der Komintern, KBF - Kommunistische Balkanföderation). Veraltete Schreibweisen stillschweigend der heutigen Rechtschreibung angepaßt. Orthographische (und mitunter auch stilistische) Fehler wurden korrigiert, fehlende Wörter oder Textstellen in eckigen Klammern [...] eingefügt. Die Anmerkungen und Zusätze in runden Klammern (...) stammen vom Verfasser. Wiederholungen sowie unverständliche Passagen wurden weggelassen und durch [...] kenntlich gemacht. Die Hervorhebungen innerhalb des Textes stammen von dem Verfasser. Die Fußnoten wurden von Gheorghe Bratescu für die rumänische Ausgabe des Buches: "O ancheta stalinista (1937-1938). Lichidarea lui Marcel Pauker", Editura Univers Enciclopedic, Bukarest, 1995, erarbeitet und auch für diese Veröffentlichung benutzt. Die ergänzenden Anmerkungen stammen von William Totok. Die Fotokopie des Manuskripts stellte uns freundlicherweise die Tochter Marcel Paukers, Tatiana Bratescu, zur Verfügung.


Anhang I:

Parteitage der rumänischen Kommunisten

Chronologische Übersicht

I. Kongreß. Gründungsparteitag der KPR 08.-12. 05. 1921 in Bukarest. (Die Organisation nannte sich zuerst: Kommunistisch-Sozialistische Partei Rumäniens.) Verbot der KP von im Mai bis Dezember.

II. Kongreß: Oktober 1922 in Ploiesti. Die neue Bezeichnung der Organisation lautet: Kommunistische Partei Rumäniens (KPR).

April 1924 Verbot der KPR (Wiederaufnamhe ihrer legalen Tätigkeit erst nach dem 23. August 1944); Mai 1924 Gründung des Kommunistischen Jugendverbands (UTC).

III. Kongreß: August-September 1924 in Wien.

IV. Kongreß: 28.06.-07.07, 1928 in Charkow.

V. Kongreß: Dezember 1931 in Moskau.

VI. Kongreß: 21.-23. 02. 1948 in Bukarest. Aus der Zwangsvereinigung der KP mit der Sozialdemokratischen Partei entsteht die Rumänische Arbeiterpartei (RAP). I. Kongreß der RAP. 1949 wird der Verband der Kommunistischen Jugend (UTC) in Verband der Werktätigen Jugend (UTM) umbenannt.

VII. (II.) Kongreß: 23.-28.12. 1955 in Bukarest.

VIII. (III.) Kongreß: 20.-25.06. 1960 in Bukarest.

IX. (IV.) Kongreß: 19.-24. 07. 1965 in Bukarest. Die RAP wird in Rumänische Kommunistische Partei (RKP) umbenannt. Der Verband der Werktätigen Jugend (UTM) erhält seine alte Bezeichnung: Verband der Kommunistischen Jugend (UTC).

X. Kongreß: 06.-12. 08. 1969 in Bukarest.

XI. Kongreß: 25.-28.11. 1974 in Bukarest.

XII. Kongreß: 19.-23. 11. 1979 in Bukarest.

XIII. Kongreß: 22.-26.11. 1984 in Bukarest.

XIV. Kongreß: 17.-19. 11. 1989 in Bukarest. Mit dem Sturz des kommunistischen Regimes verschwindet am 22. 12 1989 auch die RKP von der politischen Bildfläche. Am 12. 01. 1990 wird die praktisch nicht mehr existierende RKP offiziell verboten, kurz darauf jedoch wird das Verbot rückgängig gemacht. Am 16.11. 1990 entsteht aus dem Zusammenschluß der Demokratischen Partei der Arbeit und der Sozialistischen Partei die Sozialistische Partei der Arbeit (PSM), die als Nachfolgepartei der untergegangenen KPR gilt. In den Jahren 1990-1997 entstehen weitere kleinere Gruppierungen, die sich als Nachfolgeorganisationen der alten KPR (beziehungsweise: RKP oder RAP) betrachten.

Anhang II:

Rumänien -

Die kommunistischen Parteichefs 1921-1989

Chronologische Übersicht

Gheorghe Cristescu:

Vom Gründungsparteitag der Sozialistisch-Kommunistischen Partei Rumäniens am 08.05. 1921 bis zum III. Kongreß der KPR in Wien, im September 1924.

Elek Köblös; Mihai Macavei und Heinrich Sternberg:

Vom III. bis zum IV. Parteitag (in Charkow, 27.06. 1928, als die sozialistisch-kommunistische Partei Rumäniens praktisch aufhörte zu existieren.)

KPR (Auslandsflügel):

Vitali Holostenko:

Vom IV. Kongreß (Gründung des Auslandsflügels) bis zum V. Parteitag (Moskau, Dezember 1931).

Alexandru Stefanski (auch: Alexander Danieluk Stefanski-Gorn):

Vom V. KPR (Auslandsflügel)-Kongreß bis zum VII. Kominternkongreß (25.07.-20.07. 1935).

Boris Stefanoff (alias Draganov, Dragu):

Vom VII. Kominternkongreß wahrscheinlich bis 1938 (als die stalinistischen Säuberungen einsetzten und die Partei praktisch aufgelöst wurde).

Ana Pauker:

Von 1940 bis zur Landeskonferenz der KPR (Bukarest, Oktober 1945). Sie war nicht Chefin des Auslandsflügels, sondern einer Fraktion des Auslandsflügels, dessen parallele Fraktion auch in Rumänien wirkte.

KPR (Inlandsflügel):

Die Leitung hatte ein Sekretariat des Zentralkomitees, bestehend u.a aus: Constantin Parvulescu, Lenuta Filipovici, Lucretiu Patrascanu, Gavrila Birtas, Bela Brainer, Gh. Crosnev, M. Diaciuc-Dascalescu, Gh. Dumitru, Dimitar Ganev, Ilie Pintilie, Ion Popescu-Puturi, Al. Sencovici, Gh. Stoica.. Das Sekretariat war in der Zeitspanne 1934-1938 tätig, es ist nicht bekannt, ob der Generalsekretär des Auslandsflügels vom Inlandsflügel anerkannt worden war.

Stefan Foris:

Von 1940 bis1944.

Das Triumvirat Constantin Parvulescu, Iosif Ranghet, Emil Bodnaras.

Von der Ausschaltung Foris' im April 1944 bis zur Landeskonferenz der KP im Oktober 1945.

Gheorghe Gheorghiu-Dej:

1945 bis am 19. April 1954.

Gheorghe Apostol:

Erster Sekretär des ZK der Rumänischen Arbeiterpartei (RAP) 19. April 1954 bis am 1. Oktober 1955.

Gheorghe Gheorghiu-Dej:

1. Oktober 1955 bis zu seinem Tod am 19. März 1965.

Nicolae Ceausescu:

Vom 22.März 1965 bis 25. Dezember 1989.

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